GVF
Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung e.V.

Stellungnahmen

GVF-Statement zur aktuellen Diskussion betreffend Beta-Carotin (deutsch)

In den letzten zehn Jahren wurden die Resultate mehrerer Langzeit-Interventionsstudien mit Beta-Carotin veröffentlicht. Die einzelnen Studien mit jeweils mehreren tausend Teilnehmern kamen zu unterschiedlichen Ergebnissen (Dezember 2004).

Die Linxian-Studie wurde an der Allgemeinbevölkerung (Raucher und Nichtraucher; Männer und Frauen) der chinesischen Provinz Linxian durchgeführt; es wurde nach Supplementation mit 30 mg Vitamin E, 15 mg Beta-Carotin und 50 µg Selen gegenüber Placebo eine schützende Wirkung dieser Kombination von Antioxidantien bzgl. Krebs- und allgemeiner Sterblichkeit beobachtet [1].

In der US-amerikanischen Physicians’ Health Study (Studienkollektiv überwiegend Nichtraucher und ehemalige Raucher) wurden nach Intervention mit 50 mg Beta-Carotin jeden zweiten Tag im Vergleich zu Placebo keine negativen Effekte beobachtet, weder in bezug auf die Lungenkrebs-Inzidenz [i] noch auf die Lungenkrebs-Sterblichkeit [2].

Die Womens’ Health Study (Aspirin, 50 mg Beta-Carotin jeden zweiten Tag, 600 IE Vitamin E) wurde nach einer mittleren Interventionsdauer von 2,1 Jahren (Median) beendet. Es gab keinen Unterschied zwischen Beta-Carotin und Placebo in bezug auf die Sterblichkeit oder Inzidenz sämtlicher Krebsarten [3]. Auch in der französischen SU.VI.MAX.-Studie, die wie die Linxian-Studie an der gesunden Allgemeinbevölkerung durchgeführt wurde (Männer und Frauen; Kombination von Vitaminen und Mineralstoffen – 120 mg Vitamin C, 30 mg Vitamin E, 6 mg Beta-Carotin, 100 µg Selen und 20 mg Zink), wurde kein Unterschied zwischen Vitamin- und Mineralstoffgabe bzw. Placebo hinsichtlich Inzidenz von Krebserkrankungen oder der allgemeinen Sterblichkeit (all cause mortality) festgestellt. Wurden die Daten für Männer und Frauen getrennt ausgewertet, ergab sich für Männer ein statistisch signifikant um 31% vermindertes Krebsrisiko durch die Vitamin- und Mineralstoffkombination (RR=0,69), allerdings nicht für Frauen (RR=1,04). Ein ähnlicher Trend wurde für die allgemeine Sterblichkeit beobachtet (RR=0,63 für Männer; RR=1,03 für Frauen). SU.VI.MAX. steht für Supplementation en Vitamines et Mineraux Antioxydants [4]. Auch in der britischen Heart Protection Study zum Thema kardiovaskuläre Gesundheit (Teilnehmer überwiegend Nichtraucher mit erhöhtem Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen) unterschieden sich Lungenkrebsinzidenz und allgemeine Sterblichkeit nicht zwischen Placebo- und Vitamingruppe (250 mg Vitamin C, 600 mg Vitamin E, 20 mg Beta-Carotin) [7].

Im Gegensatz stehen die Ergebnisse von zwei Studien, bei denen das Lungenkrebsrisiko der Studienteilnehmer bereits zu Studienbeginn erhöht war: Sowohl in der finnischen ATBC-Studie (50 mg Vitamin E und/oder 20 mg Beta-Carotin, oder Placebo; Männer, starke chronische Raucher) [5] als auch in CARET in den USA (30 mg Beta-Carotin plus 25.000 IE (=7,5mg!) Vitamin A oder Placebo; Raucher und asbestbelastete Personen) [6] ergab sich in der Beta-Carotingruppe gegenüber Placebo eine statistisch signifikant erhöhte Lungenkrebsinzidenz und allgemeine Sterblichkeit. ATBC steht für Alpha-Tocopherol, Beta-Carotene, und CARET für Beta-Carotene and Retinol Efficacy Trial.

In einigen dieser Interventionsstudien wurden die Teilnehmer auch nach Ende der eigentlichen Interventionsphase weiter
beobachtet („post intervention follow-up“). Die Ergebnisse dieser Nachbeobachtung sind inzwischen ebenfalls veröffentlicht:

In der Linxian-Studie wurde auch 10 Jahre nach Ende der Intervention für die Antioxidantiengruppe ein anhaltender Schutz bezüglich der allgemeinen Sterblichkeit sowie der Krebssterblichkeit nachgewiesen [8].

Sechs Jahre nach Ende der Intervention war in der ATBC- Studie [9] kein Unterschied mehr zwischen Beta-Carotin und Placebo bzgl. der Lungenkrebsinzidenz nachweisbar. Das relative Risiko für Lungenkrebs war bereits 4 Jahre nach der Ende der Intervention wieder auf den Normalwert RR=1,0 zurückgekehrt [ii], ebenso wie die relativen Risiken zur Sterblichkeit infolge kardiovaskulärer Erkrankungen. Dieser Status blieb in den beiden weiteren Jahren der Nachbeobachtung unverändert.

Kürzlich wurde die 6-jährige Nachbeobachtung zu CARET veröffentlicht [10]. Ähnlich wie in der ATBC-Studie nahm auch hier das Lungenkrebsrisikos ab: nach Ende der aktiven Intervention wurde unter Beta-Carotin gegenüber Placebo ein 28% erhöhtes Risiko beobachtet (RR=1,28). Sechs Jahre nach Ende der Intervention war es noch um 12% erhöht, dies war gegenüber Placebo allerdings nicht mehr statistisch signifikant. Dies lässt vermuten, dass das Lungenkrebsrisiko bei den Teilnehmern von CARET langsamer abnahm als das bei den Teilnehmern der ATBC-Studie. Das zu Ende der Interventionsphase erhöhte Risiko für die kardiovaskuläre Sterblichkeit sank aber auch bei den CARET-Teilnehmern rasch auf das Niveau in der Placebogruppe (RR=1,0), wie dies auch zum Ende der 6-jährigen Nachbeobachtung bei ATBC der Fall war. Wurden die Ergebnisse für Frauen und Männer getrennt betrachtet, war das erhöhte Lungenkrebsrisiko in CARET sechs Jahre nach Ende der Intervention vor allem auf ein erhöhtes Risiko bei den weiblichen Studienteilnehmern zurück zu führen. Gleiches galt für die allgemeine Sterblichkeit und die Sterblichkeit aufgrund von Lungenkrebs.

Kommentare

  1. Beta-Carotin induziert nicht die Entstehung neuer Tumore. Möglicherweise beeinflusst es aber das Wachstum präklinischer, bereits existierender Tumore – welche bei Personen mit erhöhtem Krebsrisiko wie langjährigen starken Rauchern bzw. Asbestarbeitern wie in der ATBC bzw der CARET Studie zu erwarten sind. Demnach sollte ein erhöhtes (Lungen)-krebsrisiko nach Absetzen von Beta-Carotin schnell wieder auf das Ausgangsniveau vor Beginn der Beta-Carotin-Supplementierung zurückgehen – wie es sowohl in der ATBC-Studie [9] als auch in CARET beobachtet wurde [10]. Das in CARET nicht wie in ATBC nach sechs Jahren bereits das Ausgangsniveau erreicht ist , könnte möglicherweise darauf zurückzuführen sein, dass in CARET eine höhere Dosis Beta-Carotin verabreicht wurde, sodass zum Beispiel im Fettgewebe noch größere Speicher bestanden.

  2. Ursprünglich sollten die Interventionsstudien die Frage beantworten, ob beta-Carotin-Supplementierung die Inzidenz und die Mortalität von Lungenkrebs vermindern kann. Diese Frage kann jedoch durch die vorliegenden Resultate der Interventionsstudien derzeit nicht beantwortet werden: Die Entstehung eines neuen Tumors – von den Veränderungen im Erbgut einzelner Zellen bis zum klinisch manifesten Tumor – zieht sich über einen Zeitraum von bis zu 20 oder mehr Jahren hin. Entsprechend lange Nachbeobachtungen der Interventionsstudien könnten hier Hinweise geben. Falls beta-Carotin krebsprotektiv wirken würde – also die Entstehung neuer Tumoren in der Interventionsphase hemmt, sollte nach langjähriger Nachbeobachtung das relative Risiko in den Interventionsgruppen im Vergleich zur nicht-behandelten Gruppe (Placebo) niedriger als RR=1,0 werden.

  3. Unterschiede in zwischen Männern und Frauen bei Intervention mit beta-Carotin (plus Vitamin A) können nach Ansicht der Autoren der CARET-Nachbeobachtung in geschlechtspezifischen Unterschieden in der Körperzusammensetzung begründet sein: Frauen hatten im Mittel einen höheren Body Mass Index (BMI) und damit einhergehend wahrscheinlich einen höheren Körperfettanteil, also einen größeren möglichen Speicher für Beta-Carotin. Ebenso diskutieren die Autoren mögliche Wechselwirkungen mit Hormonen. Allerdings bezeichnen Wissenschaftler des Memorial Sloan-Kettering Cancer Center, New York, in einem begleitenden Editorial diese Ergebnisse und die diskutierten Ursachen als spekulativ [11]. Weitere wissenschaftliche Untersuchungen werden dazu beitragen, diese strittigen Fragen zu klären.

  4. In der ATBC- und CARET-Nachbeobachtung wurde ein schnellerer Rückgang des kardiovaskulären Risikos als des Lungenkrebsrisikos beobachtet. Die Autoren der CARET-Nachbeobachtung diskutieren als mögliche Erklärung, dass die Beta-Carotin-Konzentration in den Kompartimenten des Körpers, die für kardiovaskuläre Erkrankungen entscheidend sind, rascher abnimmt.

  5. Die 10-jährige Nachbeobachtung der chinesischen Linxian-Studie [8] ergab einen anhaltendenden Schutz bzgl. der allgemeinen Sterblichkeit und der Krebssterblichkeit durch die Kombination von Beta-Carotin, Vitamin E und Selen. Der Ernährungsstatus und damit auch die Vitaminversorgung der Teilnehmer der Linxianstudie ist als marginal einzustufen – ein wesentlicher Unterschied zu den Teilnehmern der anderen, in westlichen Industrieländern durchgeführten Interventionsstudien. Möglicherweise sind die in ATBC und CARET beobachteten negativen Effekte von beta-Carotin auf die hohe Dosis in diesen Studien und den daraus resultierenden supraphysiologischen Konzentrationen von Beta-Carotin zurückzuführen. Diese Annahme stände im Einklang mit der in vielen epidemiologischen Studien beobachteten schützenden Wirkung von beta-Carotin. Sie deckt sich außerdem mit den jüngsten Ergebnissen experimenteller Arbeiten zur Wirkung von Beta-Carotin bei Frettchen, die Zigarettenrauch ausgesetzt waren. Während eine hohe Dosis Beta-Carotin (entsprechend einer Tageszufuhr von 30 mg in der CARET-Studie) negative Wirkungen zeigte, wurden bei einer niedrigen (physiologischen) Dosis (entsprechend einer Tageszufuhr von 6 mg) keine negativen Effekte beobachtet. Vielmehr wurden bei dieser Dosierung schützende Effekte hinsichtlich der Entstehung einer Zigarettenrauch-induzierten Vorstufe zu Lungenkrebs (squamöser Metaplasie) nachgewiesen.

Allgemeine Schlussfolgerungen

Es erscheint effektiver, durch eine gezielte Intervention einen unzureichenden Ernährungsstatus bei einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu verbessern, als durch die Zufuhr supraphysiologischer Mengen von Nährstoffen zusätzliche Schutzwirkungen zu erwarten. Eine Ergänzung der Ernährung mit Nährstoffen welcher Art auch immer sollte sich in den Größenordnungen bewegen, für die in epidemiologischen Studien gesundheitlich positive Wirkungen nachgewiesen wurden. Es ist allgemein anerkannt, dass bei langfristiger Zufuhr eines Nährstoffes in Mengen, die den „Tolerable Upper Intake Level“ (UL) übersteigen, Nebenwirkungen möglich sind. Eine Zufuhr in solch hohen Dosierungen kann dennoch sinnvoll sein, wenn spezifische pharmakodynamische Effekte (wie beispielsweise die lipidsenkende Wirkung der Nikotinsäure) nachgewiesen sind.

References

  • Blot WJ, Li JY, Taylor PR, Guo W, et al. Nutrition intervention trials in Linxian, China: supplementation with specific vitamin/mineral combinations, cancer incidence, and disease-specific mortality in the general population. J Natl Cancer Inst 1993;85:1483-1492

  • Hennekens CH, Buring JE, Manson JE, Stampfer M,  et al. Lack of effect of long-term supplementation with beta-carotene on the incidence of malignant neoplasms and cardiovascular disease. N Engl J Med 1996;334:1145-1149

  • Lee I-M, Cook NR, Manson JE, Buring JE, Hennekens CH. Beta-carotene supplementation and the incidence of cancer and cardiovascular disease: the Womens´ Health Study. J Natl Cancer Inst 1999;91:2102-2109

  • Hercberg S, Galan P, Preziosi P, Bertrais S, et al. A randomized placebo-controlled trial of the health effects of antioxidant vitamins and minerals. Arch Int Med 2004;164:2335-2342

  • The Alpha-Tocopherol, Beta-carotene Cancer Prevention Study Group. The effect of vitamin E and beta-carotene on the incidence of lung cancer and other cancers in male smokers. N Engl J Med 1994;330:1029-1035

  • Omenn GX, Goodman GE, Thornquist MD, Balmes J, et al. Effects of a combination of beta-carotene and vitamin A on lung cancer and cardiovascular disease. N Engl J Med 1996;334:1150-1155

  • MRC/BHF Heart Protection Study of antioxidant vitamin supplementation in 20536 high-risk individuals: a randomised placebo-controlled trial. Lancet 2002;360:23-33

  • Taylor PR, Qiao Y, Johnson LI, Dong Z-W, et al. Total and cancer mortality following supplementation with multivitamins and minerals: post-intervention follow-up of the General Population Nutrition Intervention Trial in Linxian, China. In: Third Annual AACR International Conference: Frontiers in Cancer Prevention Research; 2004, Seattle (WA); p 85

  • Virtamo J, Pietinen P, Huttunen JK, Korhonen P, et al. Incidence of cancer and mortality following alpha-tocopherol and beta-carotene supplementation: a post-intervention follow-up. JAMA 2003; 290:476-485

  • Goodman GA, Thornquist MD, Balmes J, Cullen MR, et al. The Beta-carotene and Retinol Efficacy Trial: Incidence of lung cancer and cardiovascular disease mortality during 6-year follow-up after stopping beta-carotene and retinol supplements. J Natl Cancer Inst 2004;96:1743-1750.

  • Duffield-Lillico AJ, Begg CB. Reflections on the landmark studies of beta-carotene supplementation. J Natl Cancer Inst 2004;96:1729-1731

[i] Inzidenz: eine Kennzahl aus der Epidemiologie. Sie gibt an, wie viele Erkrankungen während eines definierten Zeitraumes neu aufgetreten sind.

[ii] „Relatives Risiko“ (RR): eine Kennzahl aus der Epidemiologie. Sie gibt an, um wieviel niedriger oder höher das (Erkrankungs)Risiko bei Personen ist, die eine Behandlung erhalten haben im Verhältnis zu Personen, die diese Behandlung nicht erhalten haben.
Beispiel: RR = 1,0 kein Effekt der Behandlung = 0,5 durch die Behandlung wird das Risiko um 50% gesenkt = 1,5 durch die Behandlung wird das Risiko um 50% erhöht