GVF
Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung e.V.

Stellungnahmen

Gemeinsame Stellungnahme der DACH-Liga Homocystein und der GVF zur NORVIT-Studie

NORVIT (= Randomised trial of homocysteine-lowering with B-vitamins for secondary prevention of cardiovascular disease after acute myocardial infarction) ist eine Interventionsstudie. Als Zielgruppe sind Patienten mit einem Myokardinfarkt definiert worden. Nach dem Ereignis sollte die Wirkung von B-Vitaminen auf die Wiederholungsrate kardiovaskulärer Komplikationen untersucht werden (Oktober 2005)

Weltweit werden derzeit mindestens zehn prospektive Interventionsstudien mit insgesamt mehr als 60.000 Teilnehmern durchgeführt um zu überprüfen, ob die Einnahme von B-Vitaminen nach einem kardiovaskulären Ereignis (v.a. koronare Herzkrankheit mit Herzinfarkt, zerebraler Insult und Beinvenenthrombose) eine weitere Komplikation verhindern kann. Diese Studien wurden gefordert, um die zahlreichen nachgewiesenen Pathomechanismen der Homocysteinerhöhung bzw. des Vitaminmangels auf das Gefäßsystem klinisch abzusichern und das Potential für eine Sekundärprävention einzuschätzen. Allerdings sind mit der Durchführung solcher Studien wiederum Probleme verbunden, worauf noch einmal hingewiesen wird. Bislang ist von diesen Interventionsstudien nur der VISP-trial (vitamins in stroke prevention, USA) publiziert worden. Diese Studie hat sehr deutlich die großen Probleme bei der Umsetzung und der Aussagekraft gezeigt, ein Kommentar der DACH-Liga Homocystein zu VISP liegt vor (Kommentar VISP-Studie).

Am 5. September 2005 wurden im Rahmen des Kongresses des ESC (European Society of Cardiology) in Stockholm die Ergebnisse der NORVIT-Studie präsentiert. Als Kommentar zu der Studie wurden Prof. Ian Graham (Dublin) lediglich 2 Minuten Redezeit und 3 Bilder zugestanden. Eine weitere Diskussion mit dem Auditorium war nicht möglich.

Die Präsentation von Prof. Bønaa hat viele wichtige Fragen nicht angesprochen bzw. unbeantwortet gelassen. Dagegen wurden in einer Pressekonferenz Aussagen getroffen, die nach unserer Meinung aufgrund der vorgestellten Daten in dieser Form nicht möglich und auch nicht gerechtfertigt sind. Am ehesten geben diese Schlussfolgerungen eine persönliche Einschätzung wider.

Tatsächlich besteht nunmehr die Gefahr, dass durch die unkritische Berichterstattung durch die Tagespresse das Potential der B-Vitamine in vielen Bereichen der Prävention und Klinik in Frage gestellt wird und somit eine Chance für ausgesuchte Zielgruppen zukünftig nicht genutzt wird. Besonders vorsichtig sollte mit voreiligen Schlussfolgerungen bei zweifelhafter Aussagekraft umgegangen werden, wenn die vorgelegten Studienergebnissen viele Experten auf dem Gebiet bislang nicht überzeugen konnten und die wissenschaftlich nicht außerhalb jeden Zweifels stehen. Als Hilfestellung für eine eigene Urteilsbildung sollen im Folgenden die Details der Präsentation sowie kritische Anmerkungen bzw. Überlegungen vorgestellt werden.

Studiendesign

Die NORVIT-Studie hat ein randomisiertes, doppelt-blindes, Placebo-Kontrolliertes, 2x2 faktorielles Design. Der Untersuchung wurde die Hypothese zugrunde gelegt, dass nach einem Myokardinfarkt (MI) sowohl die Folsäuregabe als auch die Gabe von Vitamin B6 die Inzidenz eines neuerlichen Infarkts um 20% senken können.

Insgesamt wurden in 35 Krankenhäusern in Norwegen 3749 Patienten im Alter zwischen 38 bis 84 Jahre mit rezentem Myokardinfarkt (< 7 Tage) rekrutiert. Die Teilnehmer wurden dann in 4 Gruppen eingeteilt und erhielten entweder Folsäure (0.8mg) mit Vitamin B12 (0.4mg), Vitamin B6 (40 mg), Folsäure (0.8mg) mit Vitamin B12 (0.4mg) und Vitamin B6 (40 mg) oder Placebo. Die durchschnittliche Beobachtungsdauer betrug 3.5 Jahre.

Primärer Endpunkt waren tödlicher und nichttödlicher MI und Insult (composite).

Sekundäre Endpunkte waren tödlicher und nichttödlicher MI oder Insult, allg. Tod, PCI (percutaneous coronary intervention), CABG (coronary artery bypass grafting) und instabile Angina Pektoris.

Ergebnisse

Etwa 30% der Teilnehmer hatten schon vor dem Studienbeginn Vitaminsupplemente eingenommen, ca. 10% beendeten die Vitamin (bzw. Plazebo-)Einnahme vorzeitig.

Die Randomisierung der 4 Gruppen erscheint weitgehend ausgeglichen; das Durchschnittsalter betrug jeweils ~63 Jahre. Von den Teilnehmern waren 74% Männer, 10% Diabetiker, 29% hatten einen arteriellen Hypertonus und 47% waren Raucher. Das Einschlusskriterium war ein MI, der nur in 73% der Fälle ein Erstereignis war, dagegen in 27% bereits ein Wiederholungsereignis.

Auffällig war eine überdurchschnittlich häufige Versorgung aller Gruppen mit sekundärtherapeutischen Medikamenten wie Statine (~80%), Acetylsalicylsäure und ß-Blocker (jeweils ~90%) und ACE-Hemmer (~30%).

In beiden Gruppen mit Folsäure/Vitamin B12 wurde die Homocysteinkonzentration im Blut erwartungsgemäß um 28% gesenkt, die Homocysteinspiegel blieben in den Placebo- und Vitamin B6-Gruppen unverändert.

In der Placebogruppe wurde innerhalb des Beobachtungszeitraumes ein primäres Endpunktereignis in 18% der Fälle beobachtet, ebenso in den Gruppen mit Vitamin B6 [MI/Insult: RR 1.1 (95% CI 1.0-1.3)] und Folsäure/Vitamin B12 [MI/Insult: RR 1.1 (95% CI 0.9-1.3)]. In der Gruppe mit allen Vitaminen (Folsäure/Vitamin B12 und Vitamin B6) wurden (im Vergleich mit den 3 anderen Gruppen gemeinsam) signifikant mehr Endpunktereignisse beobachtet [MI/Insult: RR 1.2 (95% CI 1.0-1.4)].

Zusätzlich wurde in dieser Gruppe (post hoc) eine höhere Anzahl von Malignomen registriert, diese Beobachtung war jedoch nicht signifikant.

Aussagen von Prof. Bønaa:

1) „The results of the NORVIT trial tell doctors that prescribing high doses of B vitamins will not prevent heart disease or stroke. B Vitamins should be prescribed only to patients who have B vitamin deficiency“.

2) “Harmful effects were seen in particular among those who had high levels of homocysteine at the start of the trial, among patients with impaired renal function, and among those who reported that they used other vitamin supplements in addition to the study medication”.

3) “The results of the NORVIT trial are supported by results of a recent, smaller study which used similar doses of B vitamins as those given in NORVIT. That study showed that B vitamins increased the risk of reocclusion of coronary arteries that had been opened by percutaneous revascularization”.

4) “Vitamins may be harmful”.

5) “Vitamine können die Krebsentstehung fördern“.

Kommentar zu NORVIT

In der NORVIT-Studie konnte nach einem Myokardinfarkt keine Senkung des Risikos für ein Wiederholungsereignis durch die Gabe von Folsäure (mit Vitamin B12) und / oder Vitamin B6 beobachtet werden.

Möglicherweise ist bereits die Hypothese einer 20% Risikoverminderung durch B-Vitamine unter diesen Bedingungen unrealistisch. Die Annahme bezieht sich auf retrospektive Risikoabschätzungen für ein erstmaliges Ereignis ohne Vorbehandlung.

Wenn aber als klinische Manifestation der Atherosklerose bereits ein Myokardinfarkt stattgefunden hat, so ist von einem seit Jahren bis Jahrzehnten durchlaufenen gefäßpathologischen Prozess auszugehen. Die Effektivität der B-Vitamine bzw. der Homocysteinsenkung zur günstigen Beeinflussung dieser Vorgänge nach der Manifestation als Sekundärprävention ist vermutlich weitaus geringer, als wenn im Sinne der Primärprävention eine langfristige Wirkung auf die Progression stattfinden konnte. Das wird durch Hunderte von Publikationen gestützt, die für Homocystein bzw. assoziierte Stoffwechselstörungen eine Dosis-Wirkungs-Beziehung für zahlreiche Pathomechanismen an allen Teilen der Gefäßwand be- und nachgewiesen haben (2665 Referenzen als Buch).

Diese Befunde stehen in Einklang mit der generell akzeptierten „response-to-injury“-Hypothese der Atheroskleroseentstehung. Eine besonders frühzeitige Homocysteinsenkung bzw. Vitamingabe mag daher den Verlauf der Progression potentiell zu beeinflussen, wofür es auch klinische Hinweise und positive Studienergebnisse gibt. Bei der weltweit wohl größten primärprophylaktischen Untersuchung in den USA hat das CDC (Center of Disease Control and Prevention, Atlanta) seit der landesweiten Einführung der Folsäureanreicherung in Lebensmitteln (Januar 1998) eine jährliche Abnahme der Todesfälle durch MI und zerebralen Insult um 48.000 Fälle dokumentiert (Improvement in stroke and ischemic heart disease mortality in the United States 1990–2001, Yang Q.)

Jedenfalls gibt es in den USA seit der Fortifikationsprogramm praktisch keinen Folsäuremangel mehr und dieser Umstand macht sekundärprophylaktische Studien über die Effektivität einer weiteren Folsäuregabe unmöglich. In der VISP-Studie konnte daher mit einem positiven Ergebnis erst gar nicht gerechnet werden (Kommentar VISP-Studie).

In der NORVIT Studie haben ca. 30% der Teilnehmer vor Studienbeginn bereits verschiedene Vitaminpräparate eingenommen. Es wurden jedoch keinerlei Angabe gemacht, ob und wie viele der Teilnehmer zu Studienbeginn überhaupt einen Vitaminmangel hatten oder nicht. Trotzdem wird die Vitamingabe bei Mangel vom Studienautor empfohlen (Aussage 1). Es ist eher wahrscheinlich, dass von den Teilnehmern nur ein kleiner Teil einen wirklichen Mangel hatte der durch Vitamine überhaupt auszugleichen war und die daher theoretisch profitieren konnten.

Es wurde im Studiendesign eine Therapiegruppe mit einer ungewöhnlich hohen Vitamin B6-Konzentration inkludiert (40mg/Tag; bei Hyperhomocysteinämie werden nur 2–6mg empfohlen (Konsensus). Vitamin B6 senkt jedoch alleine nicht die Nüchternhomocysteinwerte im Plasma, sondern reduziert lediglich den Belastungswert nach Methioninaufnahme. Dieser Test wurde nicht durchgeführt, NORVIT zeigte also lediglich erneut, dass Vitamin B6 auf Homocystein keinen senkenden Effekt hat (wie Placebo). Als Studienziel galt die Beobachtung einer Homocysteinsenkung auf das Ereignisrisiko.

Dennoch wurden beide Gruppen ohne Einfluß auf Homocystein (Vitamin B6 und Placebo) mit der homocysteinsenkenden Gruppe (Folsäure/Vitamin B12) zusammengefasst, und mit der Kombinationsgruppe aller Vitamin gemeinsam verglichen.

Mehr als die Hälfte aller Ereignisse traten im ersten Jahr nach dem Studienbeginn auf. Das überrascht nicht, ist doch das Risiko für ein Wiederholungsereignis in dieser Patientengruppe bekanntlich hoch, besonders da 27% der Studienteilnehmer bereits zwei oder mehr Ereignisse vor Beginn durchgemacht hatten. Ein besonders starker Negativeffekt auf ein neuerliches Ereignis wurde bei Teilnehmern mit anfänglich hohen Homocysteinwerten beobachtet, was wiederum in Bezug auf die Vitamingabe gesetzt wurde (Aussage 2). Es bleibt jedoch zu diskutieren, ob die hohen Homocysteinwerte nicht vielmehr das Ereignisrisiko begünstigt haben und ob eine deutliche Risikosenkung durch Homocysteinsenkung in so kurzer Zeit überhaupt denkbar ist. Eine Aussage über die mittel- und langfristigen Effekte der Maßnahme ist unter Einschluss aller Frühereignisse jedenfalls kaum möglich.

Das größte Problem zwischen Primär- und Sekundärpräventionsmaßnahmen ist bei letzteren die selbstverständliche Therapie mit gefäßprotektiven Medikamenten. In der NORVIT-Studie wurden auffällig mehr Teilnehmer mit Standardmedikamenten versorgt als üblich (Euroaspire I/II). Ca. 80% nahmen gleichzeitig Statine ein, rund 90% Acetylsalicylsäure und ß-Blocker und noch etwa 30% zusätzlich ACE-Hemmer.

Die zahlreich nachgewiesenen gefäßschädigenden Wirkmechanismen durch Homocysteinerhöhung/Folatmangel (bspw. Radikalbildung, Lipidoxidation, Zellaktivierung, Inflammationsstimulation, NO-Mangel, Funktionsschädigungen auf Endothelzellen und glatte Gefäßmuskelzellen, etc.) sind gleichzeitig auch Hauptangriffspunkte dieser Medikamente; und deren Wirksamkeit steht außer Frage. Sie stehen also bei gleichzeitiger Gabe in direkter Konkurrenz mit der Homocysteinsenkung bzw. Folsäuregabe und es ist zu erwarten, dass ihre Wirksamkeit derjenigen durch Homocysteinsenkung/Vitamingabe überlegen ist. Das macht es beinahe unmöglich, für Vitamine – zusätzlich zu einer optimalen medikamentösen Behandlung - eine noch weitere Risikoreduktion bei Hochrisiko-Gruppen (nach Manifestation) beweisen zu können. Das gelänge wohl nur in randomisierten Studien mit Monotherapie (unmöglich) oder bei einer um ein Vielfaches höheren Fallzahl (wenn überhaupt). Die Hypothese der 20%igen Reduktion ist unter begleitender Maximaltherapie wahrscheinlich unrealistisch.

David Wald (Southampton, UK) und andere haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Fallzahlberechnung bei Sekundärpräventionsstudien im Vergleich zur Primärprävention ungleich höher ausfallen muß (etwa bei der Hypothese einer 15% Risikoreduktion durch 3μmol/L Homocystein-Senkung etwa um den Faktor 100!, (Fallzahlberechnung). NORVIT besitzt daher unter diesen Umständen kaum die erforderliche statistische Aussagekraft für eine abschließende Beurteilung. Denn entweder war die Zahl der Teilnehmer oder die Zahl der Endpunkte im (meist sehr kurzen) Beobachtungszeitraum zu gering. Beides ist bei der NORVIT-Studie sehr wahrscheinlich der Fall. Die statistische Aussagekraft (power) wird wohl erst außer Frage stehen, wenn die Daten aller Interventionsstudien zur Verfügung stehen und eine Metaanalyse mit einem Datenpool von mehr als 40.-60.000 Patienten möglich ist.

Es ist grundsätzlich problematisch einen einzigen statistischen p-Wert als alleiniges Ergebnis mit Anspruch auf Aussagekraft zur Kausalität zu verstehen. Es stehen zum Thema Homocystein/Folsäure und Gefäßerkrankungen derzeit mehr als 10.000 Fachpublikationen mit umfassenden Kenntnisse über potentielle Zusammenhänge zur Verfügung (klinisch, Tierversuche, in vitro, Metaanalysen, etc).

Dennoch wurden bei der Präsentation keine Überlegungen über die biologische Plausibilität der Beobachtung angestellt; respektive wie eine schädliche Wirkung durch Kombination (Folsäure/Vitamin B12 und Vitamin B6) zu erklären sein könnte, während die Therapien mit Folsäure/Vitamin B12 oder Vitamin B6 jeweils ohne Effekt blieben.

Es wurde allerdings versucht, die Aussage durch eine Publikation aus dem Bereich der interventionellen Kardiologie zu unterstützen (Aussage 3) (FACIT). Obwohl fundamentale Unterschiede der Gefäßwandreaktion nach einer Gefäßdehnung und der Implantation entweder eines Metallstents oder eines drug-eluting stents bestehen, wurde bei der „perkutanen Revaskularisation“ dabei nicht unterschieden (Homocysteine and PCI (review)).

Denn sonst hätte man zahlreiche gegenteilige Arbeiten mit deutlich positivem Effekt einer postinterventionellen Vitamingabe/Homocysteinsenkung auf die Restenoserate zitieren müssen (Swiss Heart). Der vorgenommene Vergleich ist auch deshalb nicht ideal, weil die postinterventionelle Homocysteinsenkung in den Hochrisikogruppen dieser Studie positive Reduktionen des relativen Risikos gezeigt hat. Der Autor konnte ausdrücklich keinen Hinweis auf eine schädliche Wirkung der Vitamine in der Primär- und Sekundärprävention der koronaren Herzkrankheit finden (FACIT, detail). Auch wurde das Absetzen von Multivitaminen nach Koronarstenting daher ausdrücklich nicht empfohlen. Auch hierfür liegt ein Kommentar der DACH-Liga Homocystein vor (letter NEJM).