Stellungnahme der Gesellschaft für angewandte Vitaminforschung (GVF) zum Bescheid des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) über beta-Carotin-haltige Arzneimittel (März 2006)
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn hat das 2003 begonnene Stufenplanverfahren mit dem im Januar 2006 veröffentlichten Bescheid über beta-Carotin-haltige Arzneimittel abgeschlossen (BfArM 2006).
Danach müssen Arzneimittel mit beta-Carotin in Dosen von mehr als 20 mg / Tag ab 1. Mai 2006 mit folgendem Hinweis im Abschnitt "Gegenanzeigen" gekennzeichnet werden:
„[Arzneimittelname] darf von starken Rauchern (20 oder mehr Zigaretten/Tag) nicht eingenommen werden. In klinischen Studien war das Risiko für das Auftreten von Lungenkrebserkrankungen bei Rauchern erhöht, wenn zusätzlich zur normalen Ernährung täglich 20 mg beta-Carotin über einen längeren Zeitraum (bis 24 Monate) eingenommen wurden.”
Arzneimittel mit einem Gehalt an beta-Carotin von 2 - 20 mg / Tag müssen im Abschnitt "Besondere Warn- und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung" folgenden Warnhinweis tragen:
„[Arzneimittelname] soll von starken Rauchern (20 oder mehr Zigaretten/Tag) nicht über einen längeren Zeitraum regelmäßig eingenommen werden. In klinischen Studien war das Risiko für das Auftreten von Lungenkrebs¬erkrankungen bei Rauchern erhöht, wenn zusätzlich zur normalen Ernährung täglich 20 mg beta-Carotin über einen längeren Zeitraum (bis 24 Monate) eingenommen wurden.”
Arzneimittel, die beta-Carotin in Mengen kleiner als 2 mg / Tag enthalten, sind von diesen Bestimmungen nicht betroffen.
Diese Anwendungsbeschränkungen beruhen auf den Ergebnissen zweier Interventions¬studien (ATBC und CARET), nach denen die Lungenkrebsinzidenz und –mortalität bei langjährigen starken Rauchern nach Supplementierung mit hochdosiertem beta-Carotin (20 mg/Tag bzw. 30 mg beta-Carotin plus 7,5 mg Vitamin A) im Vergleich zur Placebogruppe signifikant erhöht waren (ATBC Study group 1994; Omenn 1996). In einer weiteren großen Interventionsstudie, der Physicians Health Study (Hennekens 1996), konnte dagegen kein Zusammenhang zwischen hoher beta-Carotinaufnahme und erhöhtem Lungenkrebsrisiko nachgewiesen werden, auch nicht bei der Teilgruppe der Raucher. Untersuchungen an geeigneten Tiermodellen (Frettchen, Zigarettenrauchexposition) ergaben neben der Aufklärung des Wirkmechanismus, dass selbst hohe Dosierungen von beta-Carotin bei gleichzeitiger Gabe von Vitamin E und Vitamin C keine negativen Wirkungen haben (Kim 2006). In diversen weiteren Interventionsstudien an gemischten Kollektiven (Nichtraucher, ehemalige Raucher, Raucher), in denen beta-Carotin allein und/oder in Kombination mit anderen Mikronährstoffen gegeben wurde, wurde keine erhöhtes Risiko für Lungenkrebs beobachtet (MRC/BHF - Heart Protection Study Collaborative Group 2002, Womens Health Study - Lee 1999, AREDS Research Group 2001, REACT - Chylack 2002).
Auch wenn andere Studien wie z.B. die Physicians Health Study den Zusammenhang zwischen hoher beta-Carotinaufnahme und erhöhtem Lungenkrebsrisiko bei Rauchern nicht bestätigen konnten, hält auch die GVF Warnhinweise für Raucher bei hochdosierten beta-Carotin¬präparaten für gerechtfertigt.
Dagegen ist aus Sicht der GVF, basierend auf der gegenwärtigen wissenschaftlichen Datenlage, aus folgenden Gründen eine Festlegung von 2 mg beta-Carotin/Tag als untere Grenze für einen verpflichtenden Warnhinweis nicht nachvollziehbar und sinnvoll: Beta-Carotin ist eine wichtige und sichere Vitamin A-Quelle in der menschlichen Ernährung. Vitamin A ist für das normale Wachstum und Entwicklung von Zellen und Geweben, Immun¬system, Haut und Knochen und Sehkraft wichtig. Insbesondere in der Schwangerschaft und Stillzeit spielt Vitamin A eine herausragende Rolle für die normale Entwicklung des Fötus und Neugeborenen. Eine ausgewogene Zufuhr an Vitamin A ist daher gerade bei Schwangeren und Stillenden essentiell. So empfiehlt z.B. die Deutsche Gesellschaft für Ernährung während der Schwangerschaft die Vitamin-A-Zufuhr um 40% und in der Stillzeit um 90% zu erhöhen. Obwohl die Vitamin A-Versorgung in Deutschland im Durchschnitt gesichert ist (Mensink 2004), sollte für spezielle Populationsgruppen wie z.B. Schwangere und Stillende auf eine gute Versorgung mit Vitamin A geachtet werden. Beta-Carotin ist hierbei, insbesondere bei fleischarmer oder vegetarischer Ernährung, die wichtigste Vitamin A-Quelle. Nach DGE-Schätzung deckt beta-Carotin bei gemischter Ernährung etwa 25% der Vitamin A-Versorgung (DACH 2000). Bei Personen, die wenig oder keine tierischen Lebensmittel verzehren, ist dieser Anteil entsprechend höher. Bei ihnen und bei Personen, die einen erhöhten Bedarf aufweisen, sollten zusätzliche Quellen an beta-Carotin in Betracht gezogen werden, um eine mögliche Versorgungslücke zu schließen. Hier können z.B. angereicherte Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel oder Arzneimittel eine ent¬scheidende Rolle für eine zuverlässige Nährstoffversorgung spielen. Einschränkungen in einer moderaten Zufuhr von beta-Carotin sind vor diesem Hintergrund nicht gerechtfertigt.
Ein Warnhinweis bei beta-Carotin-haltigen Präparaten schon ab 2 mg kann zu einer Verunsicherung führen, so dass gerade sensible Verbrauchergruppen davon abgehalten werden könnten, ausreichende Mengen an Vitamin A zu sich zu nehmen. Verschiedene Expertengruppen bestätigen die Sicherheit von Tagesmengen > 2 mg beta-Carotin zusätz¬lich zur Aufnahme über die Ernährung bzw. als Farbstoff. So hat das Britische Experten¬komitee zu Vitaminen und Mineralstoffen (EVM) der Food Standards Agency den „Safe Upper Intake Level“ für die Supplementierung auf 7 mg/Tag festgelegt (EVM 2003).
Nach Kenntnis der GVF gibt es keine wissenschaftliche Hinweise dafür, dass eine zusätzliche Zufuhr an beta-Carotin zur der normalen Ernährung in Höhe einer einfachen Tagesdosis an Vitamin A von 800 µg (gemäß der EU-Richtlinie zur Nährwertkennzeichnung), entsprechend 4,8 mg beta-Carotin bei einem Umrechnungsfaktor 1 mg RE ? 6 mg beta-Carotin, für Raucher nicht sicher ist. Vielmehr deuten Interventionsstudien darauf hin, dass eine moderate Zufuhr an beta-Carotin von 6 mg/Tag in Kombination mit anderen antioxidativen Vitaminen und Mineralstoffen nicht nur sicher ist, sondern auch bei Männern das Krebsrisiko verschiedener Organe (v.a. Atmungsorgane, Verdauungstrakt) senken kann (Hercberg 2004). Letztendlich ist eine ausgewogene Vitamin-A-Versorgung insbesondere bestimmter Risikogruppen wichtig. Beta-Carotin-haltige Lebensmittel, Nahrungsergänzungsmittel und Arzneimittel können hierbei einen wichtigen Beitrag liefern. Wenn die Schwellen für Warnhinweise bei beta-Carotin zu tief gesetzt werden, ist zu befürchten, dass eine ausreichende Versorgung mit Vitamin A vor allem in bestimmten Risikogruppen nicht sichergestellt sein könnte.
Literatur
Age-Related Eye Disease Study Research Group (2001): A randomized, placebo-controlled, clinical trial of high –dose supplementation with vitamins C and E, Beta carotene, and zinc for age-related macular degeneration and vision loss: AREDS report no.
8. Arch Ophthalmol; 119:1417-1436.ATBC study group (2003): Incidence of cancer and mortality following alpha-tocopherol and Beta-carotene supplementation: a post-intervention follow-up.
JAMA; 290:476-485.BfArM (2006). Abwehr von Gefahren durch Arzneimittel, Stufe II, hier: Beta-Carotin-haltige Arzneimittel zur innerlichen Anwendung mit einer Tagesdosis von 2 mg oder mehr, www.bfarm.de/de/vigilanz/stufenpl/index.php LT Jr, Brown NP, Bron A, Hurst M, et al. (2002): The Roche European American Cataract Trial (REACT): A randomized clinical trial to investigate the efficacy of an oral antioxidant micronutrient mixture to slow progression of age-related cataract.
Ophthalmic Epidemiology; 9: 49-80.Expert Group on Vitamins and Minerals (EVM) (2003): Safe upper levels for vitamins and minerals, Food Standards Agency, United Kingdom,
www.foodstandards.gov.uk/multimedia/pdfs/vitmin2003.pdfHeart Protection Study Collaborative Group (2002): Heart Protection Study of antioxidant vitamin supplementation in 20536 high-risk individuals: a randomised placebo-controlled trial.
Lancet; 360: 23-33.Hennekens CH, Buring JE, Manson JE, Stampfer M, et al. (1996): Lack of effect of long-term supplementation with Beta-carotene on the incidence of malignant neoplasms and cardiovascular disease.
N Engl J Med; 334: 1145-1149.Hercberg S, Galan P, Preziosi P, Bertrais S, et al. (2004): The SU.VI.MAX Study. A randomized placebo-controlled trial of the health effects of antioxidant vitamins and minerals. Arch Int Med; 164: 2335-2342.
Kim Y, Chongviriyaphan N, Liu C, Russell RM, Wang XD (January 9, 2006) Combined antioxidant (beta-carotene, alpha-tocopherol and ascorbic acid) supplementation increases the levels of lung retinoic acid and inhibits the activation of mitogen-activated protein kinase in the ferret lung cancer model Carcinogenesis 10.
1093/carcin/bgi340Lee I-M, Cook NR, Manson JE, Buring JE, Hennekens CH (1999): Beta-carotene supplementation and the incidence of cancer and cardiovascular disease: the Womens´ Health Study.
J Natl Cancer Inst; 91: 2102-2109.Mensink GB, Beitz R (2004). Food and nutrient intake in East and West Germany, 8 years after the reunification--The German Nutrition Survey 1998.
Eur J Clin Nutr; 58: 1000-1010.Omenn GX, Goodman GE, Thornquist MD, Balmes J, et al. (1996): Effects of a combination of Beta-carotene and vitamin A on lung cancer and cardiovascular disease.
N Engl J Med; 334: 1150-1155.